Seltene Erkrankungen

Schätzungen zufolge gibt es etwa 6.000 bis 8.000 verschiedene seltene Erkrankungen. Der Großteil, ca. 80 Prozent, ist genetisch bedingt. Viele seltene Erkrankungen machen sich daher schon bei der Geburt oder im frühen Kindesalter bemerkbar. Oft erleben Betroffene und ihre Familien auf der Suche nach der richtigen Diagnose eine Odyssee durch Praxen und Kliniken.

Wenig Informationen - großes Leid

Die meisten Krankheitsbilder treten so selten auf, dass Hausärztinnen und -ärzte sie im Praxisalltag nie zu sehen bekommen – oder sie können diese aufgrund ihrer Seltenheit nicht in das alltägliche Krankheitsspektrum einordnen. Da oft mehrere Organe gleichzeitig betroffen sind, dieselben Erkrankungen sich in ihrem Erscheinungsbild jedoch auch unterscheiden können, viele Krankheiten im Laufe der Zeit fortschreiten, zugleich Informationen und Wissen rar oder nicht vorhanden sind, lassen sich seltene Erkrankungen nur schwer diagnostizieren. Es dauert oft viele Jahre bis diese chronischen, schwerwiegenden, zum Teil auch lebensbedrohlichen Symptome richtig eingeordnet werden können. In dieser Zeit erleben die Betroffenen großes Leid. Patientinnen und Patienten sind auch nach der Diagnosestellung dauerhaft auf ärztliche Behandlung und Pflege angewiesen.

Hoffnung auf Therapie und Heilung

Eine genetische Untersuchung kann dazu beitragen, schnell Klarheit zu schaffen. Dem Leiden endlich einen Namen geben zu können, selbst wenn, wie in den meisten Fällen, noch keine Therapie oder gar Heilung in Aussicht steht, ist für die Betroffenen wichtig. Zum einen dient das Wissen der Krankheitsbewältigung: zum Beispiel können sich Betroffene und deren Angehörige bei krankheitsspezifischen Selbsthilfeorganisationen Rat und Unterstützung zum Umgang mit der Erkrankung im Alltag einholen. Sollte es eine gezielte Therapie geben, können sie davon profitieren oder zumindest vorsorgend in den Krankheitsverlauf eingreifen. Zum anderen kann, wenn es sich um einen Gendefekt handelt, die Familienplanung zielgerichtet unterstützt werden. Die Frage, ob auch Angehörige betroffen sind, diese ebenfalls eine Behandlung benötigen, kann beantwortet werden. Mit der richtigen Diagnose werden Fehldiagnosen, und damit einhergehenden Fehlbehandlungen, ein Ende gesetzt. Nicht zuletzt schenkt die richtige Diagnose Hoffnung auf eine Heilung, dank neuer, zukünftiger Therapieoptionen.

Erst die gesicherte Diagnose ermöglicht sichere Aussagen über den weiteren Verlauf der Krankheit. Das Wissen um die Diagnose hilft zu entscheiden, welche Arztbesuche gemacht werden müssen oder auch entfallen können. Ebenso wird klar, welche Früherkennungsmaßnahmen notwendig sind, um den weiteren Verlauf der Erkrankung zu verlangsamen oder zu verhindern, und welche Förderung angewandt werden sollte, damit sich vorhandene Fähigkeiten doch besser entwickeln.
Mit der Genomsequenzierung haben wir derzeit die höchste Chance, eine richtige Diagnose stellen zu können.
Prof. Dr. med. Evelin Schröck

Genetischen Erkrankungen auf der Spur

Prof. Dr. med. Evelin Schröck ist Direktorin des Instituts für Klinische Genetik am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden und Direktorin am NCT/UCC Dresden (Nationales Centrum für Tumorerkrankungen Dresden/ Krebscentrum am Universitätsklinikum Dresden UCC). Wir haben die Professorin für Klinische Genetik mit den Forschungsschwerpunkten Seltene Erkrankungen und erbliche Tumorerkrankungen gefragt, wie man der richtigen Diagnose auf die Spur kommt und schwer kranken Kindern und Erwachsenen besser zu Therapiemöglichkeiten verhelfen kann.

Was bringen genomische Untersuchungen den erkrankten Personen?

Im besten Fall beantworten sie die Frage, wie die genaue Diagnose der Erkrankung heißt, die sie oder ihr Kind quält, im allerbesten Fall erhöhen sie die Chance auf eine Therapie. Langfristig gesehen wächst zudem das Wissen zu den Seltenen Erkrankungen, von denen ja ca. 80 Prozent genetischer Ursache sind. Das heißt, je mehr Erkenntnisse wir erwerben, diese bündeln und austauschen – über Grenzen hinaus, desto mehr Menschen weltweit profitieren am Ende von genomischer Medizin.

Woher weiß ich, dass ich eine seltene genetisch bedingte Erkrankung habe?

Oft lassen äußere Erscheinungsmerkmale, Auffälligkeiten oder Verzögerungen in der Entwicklung darauf schließen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Kann dann nicht sofort die richtige Diagnose gestellt werden, steht möglicherweise der Verdacht im Raum, dass es sich um eine seltene genetische Erkrankung handelt. Eltern und Familienangehörige oder auch selbst erkrankte Personen machen sich große Sorgen, fragen sich, warum bin ich krank, was habe ich, wer kann mir weiterhelfen – und nicht zuletzt: Gibt es eine Therapie?

Doch insbesondere bei den mehr als 7.000 Seltenen Erkrankungen, von denen mitunter nur wenige Menschen weltweit dasselbe Krankheitsbild aufweisen, ist es für Ärztinnen und Ärzte nicht leicht, die richtige Diagnose zu stellen. Denn niemand kann alle diese Erkrankungen kennen. Umfangreiches Wissen und Expertise sind notwendig, auch darüber, wie man der Krankheit letztlich auf die Spur kommen kann.

Wie kommt man einer genetisch bedingten Erkrankung auf die Spur?

An einem Institut für Humangenetik wie in Dresden, werden Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen klinisch untersucht. Das heißt, dass zunächst die sichtbaren Merkmale hinsichtlich Auffälligkeiten begutachtet werden. Hierzu zählen Gesicht, Haare, Körpergröße, Gewicht, Knochen, Statur und die Extremitäten. Es wird eine Vielfältigkeit an Merkmalen miteinander verglichen, um Stück für Stück einzugrenzen, um welche Erkrankung es sich handeln könnte. Handelt es sich möglicherweise um eine Knochen-, eine Stoffwechsel-, Hirn- oder neurologische Erkrankung? Entsprechend dieser Eingrenzung veranlassen die Behandelnden weitere Untersuchungen wie beispielsweise ein MRT. Die Ergebnisse aller Untersuchungen werden zusammengetragen. Den erkrankten Personen und den Angehörigen bzw. den Eltern des Kindes werden Verdachtsdiagnosen vorgestellt, das können bis zu zehn sein. Ihnen wird erklärt, welche genetischen Untersuchungen möglich wären. Es findet also eine umfassende Beratung statt, in der auch die therapeutischen Möglichkeiten erörtert werden, die sich ergeben können. Nach der Einwilligung erfolgt die genetische Analyse des Erbguts der Patientinnen und Patienten. In 20 bis 30 Prozent der Fälle bringen diese Analysen eine klare Diagnose, auch dieses Ergebnis wird erklärt. Hierbei handelt es sich um eine Routinediagnostik.

Um auch den 70 bis 80 Prozent der weiterhin unklaren Fälle Antworten geben zu können, ist eine Untersuchung des gesamten Genoms mittels Genomsequenzierung angeraten, denn diese Methodik bietet derzeit die größte Chance, eine richtige Diagnose stellen zu können. Die genaue Diagnose ermöglicht es den Betroffenen auch, sich besser auf die Erkrankung einzustellen. Aussagen können zielgenauer getroffenen werden: wurden zunächst äußerliche Ähnlichkeiten festgestellt, die auf ein bestimmtes Krankheitsbild hinweisen, kann die genetische Untersuchung aufdecken, dass die Bedarfe jedoch ganz unterschiedlich sind. Je genauere Aussagen über eine Krankheitsursache getroffen werden können, desto größer sind die Therapiemöglichkeiten. Zugleich kann das Wiederholungsrisiko vermittelt und es können Aussagen für Angehörige wie auch mögliche Nachkommen getroffen werden.

Haben Sie einen Rat für Hilfesuchende?

Ich empfehle ihnen, sich an ein Institut für Humangenetik oder an ein Zentrum für Seltene Erkrankungen zu wenden. Bundesweit gibt es 35 dieser an den Universitätskliniken angedockten Zentren, die über eine ausgewiesene Expertise im Bereich Seltener Erkrankungen verfügen. Bei der Suche nach dem geeigneten Zentrum unterstützen die dort tätigen Lotsinnen und Lotsen an den Zentren.

Der Weg zu der richtigen Diagnose kann langwierig und zermürbend sein. Die Hilfesuchenden können selbst ihren Arzt nach einer umfassenden genetischen Untersuchung fragen. Ich empfehle den erkrankten Personen zudem den Austausch und die Vernetzung in Selbsthilfeorganisationen. Hier stärken sich erkrankte Personen und Familien nicht nur gegenseitig, sondern tauschen auch Erfahrungen aus. Gerade bei den Seltenen Erkrankungen ist das Wissen über Anlaufstellen, Krankheitsverläufe zu den Erkrankungen, Erfahrungen mit der Kostenübernahme durch Krankenkassen hoch. Viele Selbsthilfeorganisationen agieren auch krankheitsübergreifend oder unterstützen bei unklarer Diagnose. So gibt es krankheitsübergreifende Elterninitiativen und Vereine für Kinder mit genetischen Defekten.

Menschen mit Verdacht auf eine Krebserkrankung finden hier Informationen und Anlaufstellen.